Sonntag, 1. Dezember 2024

Der Nussknacker

 


 Als ich heute Morgen erwachte, dachte ich, wie gut ich es doch habe. Lebe in einer schönen warmen Wohnung, werde gut versorgt und kenne viele nette und liebe Menschen. Und auch wenn meine Tochter
weiter weg wohnt, so ist sie doch immer für mich da.
Doch nicht alle Menschen in meinem Alter haben dieses Glück.

Viel Spaß beim Lesen!

 

Der Nussknacker

Ein riesiger Lastwagen donnert die Straße herunter und fährt in die Auffahrt eines alten Anwesens.
Zwei Männer springen aus dem Wagen und bald stehen zwei große Container auf dem Rasen.
Ein junger Mann lehnt lässig am Treppengeländer und beobachtet alles ganz genau.
Hinter ihm öffnet sich die Tür und eine alte Dame tritt heraus.
Kurz streift ihr Blick die Container, dann presst sie
die Lippen zusammen und sich am Geländer festhaltend geht sie die Stufen hinunter.
Der junge Mann hatte ihren Koffer genommen und war mit schnellen Schritten zu seinem Auto geeilt.
Unten angekommen dreht sich die alte Dame noch einmal um und betrachtet mit wehmütigen Blicken das alte Haus.
 


 

Tränen steigen in ihre Augen.
Über den Hof kommt ein alter Mann.
Es ist ihr Nachbar August Weinberger.
Er und Sieglinde Neumann kennen sich seit Kindesbeinen.
„Hallo Linde, nun geht es also los?“ lächelt er etwas verlegen.
Die alte Frau nickt traurig.
„Ach Gustl, ich habe solche Angst, ich kenne doch niemanden im Altersheim.“
„Ach Lindchen, es ist ein schönes Heim und du wirst bestimmt bald Anschluss finden und ich werde dich so oft es geht besuchen.“
Das Gesicht von Sieglinde hellt sich auf.
„Das wäre schön, Gustl.“
„Oma, nun komm schon, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“ ruft der Enkel ungeduldig.
Sieglinde hebt den Kopf, strafft die Schulter und geht hinüber zu ihrem Enkel Hans.
Lange noch sieht der alte Mann dem Auto hinterher, dann geht er über die Straße und betritt das schmucke Einfamilienhaus, das sein Sohn gebaut hat und in dem es auch ein kleine Wohnung für ihn gab.
Seine Schwiegertochter Rosemarie steht in der Küche und schneidet Gemüse.
Einen Moment sieht der alte Mann ihr versonnen zu, dann tritt er auf sie zu, umarmt sie und gibt ihr einen Kuss.
„Nanu, wofür war das denn?“ lacht die junge Frau.
„Ich bin so froh, dass mein Sohn dich geheiratet hat und ihr mich nicht in ein Altersheim abschiebt.“
Seine Schwiegertochter lächelt.

 


Es ist dunkel und nur der Mond wirft sein fahles Licht durch die Luke in den alten Speicher, in dem es recht lebendig ist.

Mäuse huschen über den Boden und eine dicke fette schwarze Spinne krabbelt eifrig über die Wand, um ein weiteres ihrer kunstvollen Netze zu spinnen, mit dem schon fast der ganze Speicher bedeckt ist.
 

(c) Werner Borgfeldt

 

Nun hat sie den Boden erreicht und krabbelt vorsichtig auf eine Kiste mit Weihnachtsdekorationen zu.
Fast hat sie den Rand der Holzkiste erreicht, da taucht der Kopf eines Nussknackers auf.
Zornig fletscht er seine kräftigen Zähne.
„Wage es nicht, alte Vettel, mich mit deinen klebrigen Fäden zu bedecken!“
Die Spinne wendet sich um und krabbelt eilig davon.
Der Nussknacker aber stützt sich mit dem einem ihm noch verbliebenen Arm ab, um sich aufrecht hinzusetzen.
Traurig betrachtet er seine zerschmetterten Beine und eine Träne läuft aus seinen Augenwinkel.
Es raschelt und Madam Maus mit ihren fünf Kindern
trippelt über den Boden.
„Guten Abend, Herr Nussknacker, wir möchten uns verabschieden.“
Der Nussknacker nickt traurig.
Madam Maus hatte ihm vor einigen Tagen erzählt, dass seine Sieglinde von ihren Kindern ins Altersheim abgeschoben wurde, weil der Enkel Hans
das alte Haus abreißen und ein neues bauen will.
„Herr Nussknacker?“ reißt ihn die Stimme von Madam Maus aus seinen Gedanken.
„Wären sie so liebenswürdig und würden uns zum Abschied noch eine ihrer wundervollen Geschichten erzählen?“
 


 

Dieser nickt, setzt sich etwas bequemer hin und erzählt der Maus und ihren verzückt lauschenden Kindern wie er zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war.
Der Vater der damals fünfjährigen Sieglinde hatte ihn ihr geschenkt. Es war sein letztes Geschenk, denn wenige Monate später ist er im Krieg gefallen.Seitdem war er für die kleine Sieglinde etwas ganz besonders. Das ganze Jahr über durfte er in ihrem
Zimmer auf dem Regal stehen.
Und wenn der alte große Baum hinter dem Haus verschwenderisch seine Walnüsse spendete, dann kam er in die gute Stube stand dann neben einer großen Schüssel mit Nüssen und konnte fröhlich für die Bewohner diese knacken.
 


 

Doch dann eines Tages, der Krieg war schon eine Zeitlang vorbei, da wurde in die Stube ein großer bis zur Decke reichender Tannenbaum gebracht und mit allerlei bunten Kugeln, Sternen und Engelhaar geschmückt.
Echte Wachskerzen wurden aufgesteckt und ihr Licht strahlte mit Sieglindes Augen um die Wette, als sie das Zimmer betreten durfte.
Seitdem hatte er noch viele viele Weihnachten in diesem Haus erleben dürfen, bis zu dem verhängnisvollen Tag, an dem der Enkel Hans ihn in einem Wutanfall quer durch das Zimmer an die Wand geworfen hatte.
An dieser Stelle schluchzten die Mäusekinder laut auf.
Seitdem verbrachte er seine Tage vergessen hier oben auf dem Speicher.
Madam Maus aber sieht hinauf zu Luke.
„Es beginnt hell zu werden, wir müssen los.“
„Haben sie denn schon eine Bleibe?“
„Ja, wir ziehen aufs Land zu meinem Vetter.“
„Dann passen sie gut auf, wenn sie die Stadt verlassen, es streifen viele Katzen durch die Gegend.“
„Keine Bange, wir nehmen den Weg durch die Abwasserkanäle.“
Nun bekommt der Nussknacker noch von jedem Mäuschen einen Kuss und mit einem mehrstimmigen
„Auf Wiedersehen!“ verschwinden sie in einem Loch in der Mauer.
Wieder allein sinniert der Nussknacker traurig.
Was wohl aus ihm werden wird?

Kaum geht die Sonne auf, fährt ein Wagen in die Einfahrt und mehrere Männer die auf der Ladefläche sitzen springen herab und verschwinden lachend und schwatzend im Haus.
Bald füllt sich ein Container nach dem anderen.
Gustl steht am Fenster seines Zimmers und guckt traurig zu, wie ein Stück nach dem anderen lieblos weg geworfen wird.
 


 

Plötzlich sieht er etwas oranges aufblitzen. Ist das nicht der Nussknacker, den Sieglinde von ihrem Vater bekommen hatte und an dem sie so hing.
Mit schnellen Schritten eilt er hinüber und zu dem Container.
Ein Mann brüllt ihn an:
„Hey, Alter verschwinde hier gibt es nichts zu gaffen!“
Eben kommt ein baumlanger kräftiger junger Mann mit dem alten Schaukelstuhl aus dem Haus.
„Halt den Schnabel, Max und kümmere dich um deine Arbeit.“
Er legt den Schaukelstuhl in dem Container ab, dann kommt er herüber zu Gustl.
Mit einem verlegenen Lächeln meint er:
„Entschuldigen sie Herr Rektor, meine Leute sind manchmal es ungehobelt.“
Über das Gesicht des Lehrers gleitet ein feines Lächeln.
„Bist du nicht der Toni Ungemach, der immer so viel Probleme in der Mathematik hatte?“
„Ja und auch ihre Nachhilfe hat nicht viel gebracht, aber die selbst gebackenen Kekse ihrer Frau waren prima.“
„Ach und du räumst jetzt Häuser aus?“
„Ja unter anderem, ich habe doch die Spedition meines Vaters geerbt, keine Angst meine Frau macht die Buchführung!“
Beide lachen vergnügt.
Dann räuspert sich Gustl und fragt bittend.
„Meinst du, dass ich mir den alten Nussknacker da nehmen darf, die Frau Neumann hing doch so an ihm. Vielleicht kann ich ihn reparieren und ihr ins Altersheim bringen.“
„Ja, nehmen sie nur, Herr Rektor. Es ist eine Schande wie der Enkel mit der alten Frau umgeht, sagen sie ihr einen schönen Gruß von mir, wenn sie sie besuchen.“
Mit dem Nussknacker in der Hand verschwindet Gustl in dem Gartenhaus, in dem ihm sein Sohn eine kleine Werkstatt eingerichtet hat.
Und nun wird geschnitzt, gehobelt, geschliffen und gemalt und dann steht der Nussknacker in voller Pracht mit zwei Beinen und Armen auf dem Regal zum Trocknen.
Mit einem versonnen Lächeln betrachtet der alte Mann sein Werk.
Wie würde sich Sieglinde freuen.
In zwei Monaten war doch Weihnachten. Ja er würde ihn ihr zu Weihnachten schenken.
Vergnügt pfeifend verlässt er die Werkstatt.
Die nächsten Wochen besucht er seine Freundin nun so oft er kann im Seniorenheim.
Sieglinde kann sich nur langsam dort eingewöhnen und von ihrer Familie lässt sich keiner blicken.
So freut sie sich immer ganz besonders wenn Gustl vorbei kommt.
Manchmal holt sie auch sein Sohn Martin sonntags zu Kaffee und Kuchen nach Hause.
Und dann kommt der Hl. Abend.
Bereits am Vormittag wird Sieglinde geholt und während sie und Gustl die Kinder beschäftigen, schmücken die Eltern die Weihnachtsstube.
Nach einem leckeren Festmahl wird diese dann geöffnet.
Mit leuchtenden Augen blickt Sieglinde auf den strahlenden Weihnachtsbaum.
Dann werden die Geschenke verteilt.
Rosemarie reicht ihr ein Päckchen , in dem warme Handschuhe und ein schöner Schal sind und Sieglinde bedankt sich mit leuchtenden Augen.
Nun aber kommt Gustl verschmitzt lächelnd auf sie zu, in den Händen einen länglichen Geschenkkarton.
Vorsichtig hebt sie den Deckel und jubelt.

 


„Das ist ja mein Nussknacker!“
Behutsam hebt sie ihn aus der Schachtel und betrachtet ihn staunend von allen Seiten.
Dann blickt sie in die strahlenden Gesichter ringsum und haucht mit Tränen in den Augen:
„Danke!“
Später im Heim bekommt der Nussknacker seinen Platz auf ihrem Nachtschränkchen und wie in Kindertagen vertraut sie ihm ihre Nöte und Sorgen an und wie bereits damals hört er ruhig und verständnisvoll zu.
Als Sieglinde nach einigen Jahren starb, wurde der Nussknacker mit ins Grab gelegt und sie nahm ihn mit hinauf in den Himmel.

© Lore Platz  13.12. 21




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